„Ich bin zu allen Menschen nett.“

Wieso nett sein nicht erstrebenswert ist und weshalb nette Menschen oft nicht ehrlich sind.


Ich sitze nach Schulschluss um 12 Uhr am Pult einer Lehrerin, die ich einen Tag vertreten habe, als einer der Zweitklässler bei mir ankommt und mich auffordert: „Du musst den Vertrag noch ausfüllen.“, und mich lächelnd anschaut und erwartungsvoll fragt: „Habe ich es gut gemacht? Bekomme ich ein Smiley?“ Nun bin ich neugierig. Was soll hier festgehalten werden?


„Ich bin zu allen nett“,


steht da oben auf diesem „Vertrag“ und während ich das aufnehme, spüre ich eine leise Traurigkeit in meinem Herzen.

Da ich nichts von diesem Lernziel wusste, hatte ich nicht speziell auf das Sozialverhalten dieses Jungens geachtet. Jedoch genau er fiel mir als angenehm freundlich und sehr präsent im Unterricht auf, was bemerkenswert war, denn ansonsten nahm ich diese Zweitklässler als extrem unruhig war.


Ich zeichnete dem Jungen einen grossen Lachmund in einen Kreis, der nun eben zum Smiley wurde und entliess in die Mittagspause.

Ist das erstrebenswert? – Nett sein zu allen?!


Was ist das für ein sonderbares Lernziel? Seit diesem Erleben taucht dieser Satz in meinem Hirn auf und hinterlässt eine leichte Wut.



Du sollst nicht nett sein, sondern authentisch!


Mir geht Nettigkeit sowas von auf die Nerven! Oder präziser gesagt: Sie macht mich schläfrig. Sie gehört zur auf hochglanz polierten und auf Ettiket bedachten Gesellschaft. Ich vermisse hinter all der Nettigkeit eben die Authentizität – kantiger, rauher, aber oft auch herzlicher als eben – nett.


Es ist dieses gelernte „Fake-Verhalten“, das die Botschaft beinhaltet „Nicht wie du fühlst ist entscheidend, nicht was du denkst interessiert – wie du scheinst ist, was zählt!“, die mich wirklich ankotzt. Und so ein Verhalten kann man offensichtlich nicht früh genug lernen.

Wir müssen nicht darüber diskutieren, dass ein Kind lernen soll, seine Kameraden nicht zu verhauen oder sonst wie zu quälen (Und die wenigsten Kinder tun dies.).

Aber ein Verhalten und einen Charakter anzutrainieren, die die Etikette nett bekommen – ist das erstrebenswert?


Nein, ganz im Gegenteil – nett sein müssen macht krank!


Und zwar darum, weil ein Mensch, der als intrinsisches oder extrinsisches Ziel „nett sein zu allen (und immer)“ hat, nicht im Reinen sein kann mit sich selbst. Und glaube mir, wenn du als kleines Kind das zwar nicht selber möchtest, also nicht von innen heraus, du aber erfährst, dass du nur positiv gesehen wirst, wenn du eben nett bist, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr gross, dass du irgendwann entweder „automatisch“ zu allen nett bist oder du nett sein so sehr ablehnst, dass du möglicherweise durch problematisches Verhalten dir selbst im Wege stehst.


Ja, wir sollen respektvoll und anständig miteinander umgehen und ja, ich muss wissen, dass ich nicht jedem Menschen meine Emotionen ungefiltert an den Kopf knallen kann und selbst wenn ich ein Umfeld habe, das an meinen ungefilterten Emotionen interessiert ist, ist es eben doch (meist) konstruktiver, wenn ich ein paar Regeln der gewaltfreien Kommunikation anwende – keine Frage! Aber nein, nein und noch einmal nein! Wir sollen nicht immer nett sein!


Wir sollen authentisch sein – ehrlich und klar!


Wenn ich wütend bin, irritiert oder verletzt, bedeutet authentische Kommunikation nicht, eine Sprache zu wählen, die wiederum verletzt, beleidigt, abwertet oder sonst wie darauf abzielt (wenn auch unbewusst), dem Empfänger Schaden zuzufügen. Authentisch sprechen heisst in diesem Fall adäquat zu meinen Gefühlen sprechen und handeln. Wenn ein Kind seine Hausschuhe im Mülleimer findet und der Täter bekannt ist, dann soll das verletzte Kind weder dem Täter die Schuhe an den Kopf knallen noch ihn für seine Untat verbal beleidigen – klar! Aber – es darf seine Empörung und Verletzung kundtun und es darf, nein es soll ruhig auch lauter sprechen, wenn es seiner Gefühlslage damit Nachdruck verleihen will! Das ist authentisch und kommt mit ziemlicher Sicherheit als klare Botschaft an, die lautet: „Dein Verhalten wühlt mich auf. Dein Verhalten lässt mich aufbrausen. Siehst du, wie es mir geht?!“

Es ist verheerend, wenn ein Kind (genauso ein Erwachsener) ein unangenehmes Gefühl spürt (Trauer, Wut, Enttäuschung etc.), das aber nicht ausdrücken darf – sondern einfach nett sein muss. Es lernt nämlich unweigerlich, dass seine Emotionen falsch sind und als Nächstes verlernt es, seine Gefühle und Emotionen überhaupt zu spüren und zu „identifizieren“.


In der Schule werden die Kinder (viel zu) oft dazu angehalten, ihre Auseinandersetzungen den Lehrpersonen mitzuteilen. Diese hat selten genug Zeit (und Nerven) sich der Sache anzunehmen, hört routiniert beide Seiten an und bittet die Kinder danach, sich die Hände zu schütteln und sich gegenseitig zu entschuldigen. Schrecklich! Einerseits kann ich mich nicht entschuldigen, ich kann lediglich um Entschuldigung bitten und andererseits übergeht diese Abhandlung die Gefühle der Kinder. Wieso dürfen sie nicht lernen, mit ihren Gefühlen (auch unangenehmen Gefühlen) zu sein und mit ihnen angemessen damit weiterzugehen und allenfalls zu handeln? Als Lehrerin und ich denke so geht es den meisten Eltern, ist es mir wichtig, ein so stabiles Vertrauensverhältnis aufzubauen, dass ein Kind sich mir bei Bedarft anvertraut und ich dann eben auf seine Gefühle eingehen kann und nicht auf dem Konflikt herum reiten muss.

Und ganz ehrlich, bei uns Erwachsenen ist es doch nicht anders. Wenn mir ein Teammitglied in der Sitzung mehrmals ins Wort fällt, dann ist es einfach falsch, wenn ich lächelnd reagiere mit „Ist schon gut, macht nichts. Sprich du nur.“ Wer jetzt sagt, er fühlt aber so, den frage ich, weshalb teilst du dich dann mit, wenn es dir nichts ausmacht, wenn du wiederholt unterbrochen wirst? Ist das nicht eine dir „nett“ zurecht gelegte Ausrede, damit du nicht zu deinen in der Gesellschaft nicht gern gesehenen Emotionen stehen musst? Ich sage dann: „Hey, ich möchte gerne ausreden. Es stört mich, wenn du mich unterbrichst.“ Und ich bin sicher, dass ich das gut hörbar tue.


Ganz ehrlich, ich möchte Menschen um mich herum, die ehrlich sind – mit sich selbst und mit mir und ich finde, wenn jemand nicht mit Ehrlichkeit umgehen kann, dann ist es an der Zeit, sich mit der eigenen Persönlichkeit auseinanderzusetzen und nicht, sich zu empören, dass Mitmenschen verletztend und frech sind. Wenn du verletzt bist, wenn ich ehrlich bin, dann ist das dein Thema, nicht meins und wenn meine Ehrlichkeit unsere Beziehung beeinträchtigt, na ja, dann stimmt meiner Meinung nach etwas nicht.

Nett sein ist wie ein gemischter Salat


Nett sein ist wie ein gemischter Salat im Durchschnittsrestaurant – kaum je schlecht, aber garantiert nichts, das in Erinnerung bleibt. Nett schmeckt fade, leuchtet nicht, klingt nicht und spüren tue ich bei nett auch nichts, ausser vielleicht die Distanz zwischen mir und Gegenüber und nicht selten hinter dem Nett eine Freudlosigkeit, die nichts mit mir zu tun hat (Ja, ich masse mir an zu schreiben, dass ich das spüren kann – selbstverständlich nicht immer).

Freundlichkeit ist das „Ergebnis“ von Zufriedenheit


Zum Klar- und Gegenüberstellen: Ich liebe Freundlichkeit! Freundlichkeit ist wunderbar herzerwärmend – aber eben nur dann, wenn sie auch aus dem Herzen kommt (Und eigentlich kann es ja nur dann Freundlichkeit sein.).

Ich behaupte Freundlichkeit ist das „Ergebnis“ von Zufriedenheit. Nettigkeit (Welch ein holpriges Wort, ich musste tatsächlich erst prüfen, ob das überhaupt existiert.) ist wie ein Anzug oder ein Deux-Pièce, das man sich zum Anlass, der diese Form erfordert, überzieht – und keine Frage, das sieht oft klasse aus!


Lasst uns mutig ehrlich sein!


Also liebe Erwachsene, lasst uns mehr ehrlich sein! Das Leben ist herausfordernd genug, wir müssen es uns nicht durch falsche Nettigkeit noch zäher machen. Und bitte, nehmen wir nicht unseren Kindern ihre heile Authentizität, aber begleiten wir sie auf dem Lernweg der gewaltfreien Kommunikation!

Ach ja, und beobachten wir uns doch mal wieder selbst: Mit wie viel Freundlichkeit gehe ich durchs Leben? Und falls sie mir auf meinem Weg abhanden gekommen ist: Ist es allenfalls an der Zeit für einen Schritt nach rechts? Oder links?

„Vertragspraxis“ im Klassenzimmer


Diese Vertagspraxis scheint sich in der Volksschule verbreitet zu haben. Sinn und Zweck ist es, Kinder nicht immer wieder auf eine problematische Verhaltensweise hinweisen zu müssen, was ja meist eben nichts nützt, ätzend ist für Empfänger und Sender und da monoton und repetitiv bald gar nicht mehr gehört wird. Ich sehe durchaus einen Nutzen darin, da ein Problem 1. bewusst angesprochen wird, 2. das Kind (meiner Meinung nach) eingeladen werden soll, zu visualisieren und zu formulieren, wie das gewünschte Zielverhalten aussehen soll und 3. Lehrperson und Kind gemeinsam dieses Ziel überpüfbar formulieren und schriftlich festhalten. 4. wird dieses Zielverhalten dann auch über längere Zeit mit Unterstützung der Lehrperson, Eltern und eventuell Mitschüler/innen eingeübt. 5. und zentral am Ganzen; auch die Eltern werden (eher passiv zwar) miteinbezogen, in dem ihr Kind ihnen diesen Vertrag täglich zum visieren mitbringt. Ohne echten Willen des Kindes ist diese Praxis allerdings sinnlos – mehr noch – es ist dann lediglich ein weiteres „erzieherisches“ Machtinstrument der Erwachsenen.


Ein Lernziel, das vertraglich (Kind, Eltern, Lehrperson) festgehalten wird, kann beispielsweise heissen: „Ich sitze pünktlich zum Unterrichtsbeginn an meinem zum Arbeiten eingerichteten Platz.“ Somit sind die Eltern in der Pflicht, die Zeit vor dem Schulbeginn für das Kind so zu gestalten, dass es sich zunehmend selber organisieren kann, um das erforderliche Zeitmanagement zu lernen, welches


die Zielerreichung erfordert. Das Kind ist in der Pflicht, zu lernen (oder zu akzeptieren), dass gewisse gesellschaftliche Regeln eingehalten werden und es seine eigenen Bedürnisse da einordnen lernen muss und die Lehrperson ist in der Pflicht, das Kind, so weit wie es dies benötigt, in der Zielerreichung zu unterstützen und vor allem auch, betreffend dieses Zieles mit ihm in Kontakt zu sein und bleiben.