Ein Buchprojekt für den Müll

Wie ein Buchprojekt eine Vision ins Jetzt geholt hat und wieso ich es voller Erleichterung im Müll versenkt habe.

Oder warum kreative Arbeiten nicht immer ihren Schöpfer verlassen und wieso sie dennoch beendet werden müssen.
 

Im Juli letzten Jahres bin ich nach Kalabrien gereist – mit einem Wunsch und einem dringenden Bedürfnis im Gepäck. Der Wunsch; meinem Daheim im Süden einen Schritt näher zu kommen. Das Bedürfnis; einen ruhigen und gleichermassen inspirierenden Platz zu finden, an dem ich in fünf dafür reservierten Wochen mein zweites Buch würde schreiben können.

 

Ich erinnere mich bestens an das Glücksgefühl nach dem Erwachen am ersten Morgen in diesem Dorf im Süden – hier ist daheim, hier will ich bleiben!

 

Geblieben bin ich, mit Ausnahme einiger Reisen inklusive des unfreiwilligen Lockdowns in der Schweiz.

 

Und das Buch? Ja, das Buch… Daran habe ich tatsächlich in freudvollem Flow mehr oder weniger fünf Wochen lang geschrieben. Leicht flossen die Texte aus mir heraus und wie ich mir das gewünscht hatte, war ich umgeben von Inspiration und ich surfte auf einer Welle des Einsseins mit mir und all dem, was entstehen sollte. – Bis das Leben dazwischen kam und, wie sagt man so schön, mir „einen Strich durch die Rechnung machte“.

 

Liebe stand plötzlich vor mir – in Form einer wunderschönen Seele, die ich seit vielen Jahrhunderten kenne. Ich wusste sofort, dass er mein Seelenpartner ist und so fühlte ich mich bestätigt darin, ein paar Wochen zuvor meiner Intuition gefolgt zu sein und meine Wohnung und Praxis in Zürich aufgegeben zu haben und (fast) frei wie ein Vogel im Süden gelandet zu sein.

 

So tauchte ich ein in diesen Süden, der so anders ist, als der mir vertraute Norden. Nicht eine Sekunde stellte ich den Schritt, hier her gekommen zu sein, in Frage. Ich genoss die Sonne und die süssen Früchte, beobachtete die Menschen und lernte ganz langsam ein winziges bisschen, was es bedeutet, in diesem Süden zu leben. 

 


Je mehr ich eintauchte, desto mehr schien meine Kreativität auf der Strecke zu bleiben. Ich konnte aus mir unerklärlichen Gründen nicht mehr schreiben. Was ich anfangs mehrheitlich entspannt zu Kenntnis nahm, besorgte mich über die Monate mehr und mehr, bis ich am ersten Tag dieses Septembers nicht mehr anders konnte, als meine Koffer zu packen, mein Auto vollzustopfen und die fragenden Dorfbewohner in meinem gebrochenen Italienisch abzufertigen mit: „Ho perso la mia creatività. No, niente die male qui. Questo borgo è perfetto!“ Ach, in diesen Dörfern gibt es keine Geheimnisse. Natürlich wussten alle, dass ich meine Seelenliebe verlassen hatte. Aber natürlich nicht, dass ich das getan hatte, da ich mein Leben nicht aufgeben wollte für einen Mann, der sein Leben für diese Mentalität und sein Dorf aufopfert.


Eine Küste, die meinem Wesen entspricht

So sitze ich nun hier – noch immer in Kalabrien, aber an einer anderen Küste. Eine Küste, die meinem Wesen so viel mehr entspricht als jene, wo ich zuvor lebte. (Galt das erlebte Gefühl des Zuhause-Seins nun jenem Dorf oder generell dem Süden? Ich weiss es nicht!) Hier ist die Küste lebendig, verspielt, grün, tropisch – fast kein Wind und hin und wieder fühl ich mich beinahe wie im geliebten indischen Goa – nur ohne Kokosnuss! Und hier habe ich wieder geschrieben – so viel, dass das Buch vor kurzem unter Höllenqualen tatsächlich fertig wurde.

 

Das Buch fertig meint selbstverständlich einen ersten Rohentwurf. Oh, wie war ich erleichtert! Die Erleichterung hielt so lange an, bis ich damit begonnen hatte, die Texte durchzulesen. Da ich wieder einmal den Fehler gemacht hatte, in einer Bar zu arbeiten, liess ich mich auch bald von einem kalabresischen Möchtegern-Charmeur unterbrechen. Ein paar Minuten nach seiner Einladung, mich doch geschützt von den vereinzelten Regentropfen, an seinen Tisch unter dem Schirm zu setzten später, liess ich ihn auf der Piazza stehen. Sein inspirierender Geheimtipp zum Arbeiten war so gar nicht meins und ich hoffe schwer, nun endlich gelernt zu haben, dass ich NIE Ja sagen muss, wenn ich Nein spüre – auch dann nicht, wenn mir jemand den perfekten Platz zum Schreiben verspricht in einem Moment, in dem ich nicht ganz schmerzfrei erkennen muss, dass meine hundertvierzig produzierten Seiten mehr Potential haben, mich endgültig emotional zu erschlagen, als in Buchform auch nur einen einzigen Leser zu inspirieren.

 

Bereit, hinaus zu gehen

 

An jenem Abend lag ich im Bett und wie ein Tropfen Farbe langsam das Wasser um ihn herum zu besetzen beginnt, begann sich ein Tropfen Ahnung in all meine Zellen auszubreiten. (Kann man das Ahnung nennen, wenn es einem von einem Star-Astrologen eindringlich ans Herz gelegt wurde?): Ich bin endlich bereit dazu, für einen Kanal zu schreiben, der wie diese Küste, meinem Wesen wahrscheinlich wirklich viel mehr entspricht, als Bücher. Keine Langzeitprojekte, nichts für die Ewigkeit, impulsiv und spontan: Ja, ich bin endlich bereit zum Bloggen!

 

Am nächsten Morgen zwang ich mich, diese sonderbaren, mich zu erschlagen drohenden Texte fertig durchzulesen. Als aus lesen überfliegen wurde, und überfliegen zu runter-scrollen verkam, setzte ich dem Trauerspiel ein Ende in dem ich zum Schluss kam: Unbrauchbar!

 

Mit Kaffee und frischer Luft auf dem Balkon musste ich das erst einmal verdauen. Dieses ganze Drama um ein Buch soll für nichts gewesen sein?! Ein Jahr und alle diese Zeilen für den Abfalleimer?! Tränen flossen, Trauer quoll aus meinem Herzen – ein, zwei Minuten lang, bis der Weg frei war für die grosse Welle: Freude! Oh, wie freue ich mich! Ich bin frei! Das Buch ist beendet. Ich habe es durchgezogen bis zum bitteren Ende und nun brauche ich mich keine Sekunde mehr darum zu kümmern! Das Buch hat mich in den Süden geführt, mich gezwungen, noch einmal meine Leidensgeschichte zu reflektieren und vor allem hat es mich auf allen Ebenen reifen lassen. Ich bin glücklich und fühle mich frei – oder ausgedrückt in den Worten, wie ich meinen Zustand einem Freund beschrieben habe:

 

Horizon feels closer, sky brighter – more air to breathe!